11.11.2024 - Lin Shidong und Wang Manyu haben das WTT Champions in Frankfurt gewonnen. Von daher ist die chinesische Tischtenniswelt doch in bester Ordnung, oder? Wer etwas genauer hinschaut, dem stechen in letzter Zeit allerdings auffällig viele Niederlagen mancher Topchinesen ins Auge. Handelt es sich dabei um eine vorübergehende Schwächephase oder einen längerfristigen Trend? Und was sind die Gründe dafür? Redakteurin Janina Schäbitz macht in ihrem Blog ein paar Vorschläge.
Chinesische Tischtennisspieler sind keine Maschinen. Das ist jetzt zwar keine Wahnsinnserkenntnis, in den vergangenen Jahrzehnten konnte man diese Selbstverständlichkeit aber manchmal fast vergessen. Spieler wie Zhang Jike, Xu Xin, Wang Hao oder Ma Long legten in ihren Hochzeiten eine Dominanz an den Tag, dass jede Niederlage gegen einen Nicht-Chinesen schon fast eine Meldung wert war. Auch heute sind die Chinesen noch das Maß aller Dinge - was nicht zuletzt ihre Errungenschaften bei allen Topturnieren dieses Jahres, also bei der WM, den Olympischen Spielen, dem World Cup und den Grand Smashes beweisen, wo sie allesamt die volle Ausbeute holten.
Auffällig viele Niederlagen seit Olympia
Und trotzdem scheint die Selbstverständlichkeit, mit der die besten Chinesen durch wichtige Wettbewerbe marschieren, in letzter Zeit vor allem bei den Herren etwas zu bröckeln. Bei den Asienmeisterschaften, wo China meist alle Titel abräumt, kam die Tischtennisnation im Oktober ‚nur‘ auf zwei von sieben Goldmedaillen, wobei man die prestigeträchtigen Einzeltitel Japan und Nordkorea überließ und den Japanerinnen im Teamwettbewerb erstmals seit 50 Jahren zum Sieg gratulieren musste. Beim WTT Champions in Montpellier schaffte es kein Chinese ins Finale. Hier räumte allein Benedikt Duda mit Liang Jingkun und Lin Gaoyuan zwei Top-10-Spieler aus dem Weg, der spätere Sieger Felix Lebrun übernahm den topgesetzten Lin Shidong. Und die beiden sind lange nicht die Einzigen, die sich in letzter Zeit über Siege gegen hochkarätige Athleten aus China freuen durften: Anders Lind, Benyamin Faraji, Oh Junsung und zuletzt Anton Källberg sicherten sich seit den Olympischen Spielen zum Beispiel Siege gegen die Nummer eins der Welt, Wang Chuqin.
Tatsächlich sticht die Entwicklungskurve des Weltranglistenersten im negativen Sinne hervor. Seit seiner Einzelniederlage gegen Truls Moregardh bei den Olympischen Spielen in Paris scheint Wang etwas von der Rolle zu sein - vor allem, wenn man es mit seiner Dominanz in der ersten Jahreshälfte vergleicht. Von 60 Einzeln hat der Chinese in diesem Jahr neun verloren - sechs davon seit der Niederlage von Paris. Beim WTT Champions in Frankfurt konnte er mit Anton Källberg schlicht nicht mithalten, was auch an einer guten Leistung des Schweden lag, aber - wie dieser selbst betonte - auch an einem schlechten Tag des Chinesen. Was ist also los mit den Titelabonnenten? Ich denke, dass hier verschiedene Faktoren zusammenkommen.
Was sind die Ursachen?
So ist es ganz normal, dass Sportler nach einem solchen Höhepunkt wie den Olympischen Spielen mal in ein kleines Leistungstief fallen. Vier Jahre lang hat man alles auf dieses eine große Turnier ausgerichtet, bei dem China dem Druck diesmal auch in allen fünf Disziplinen standhalten konnte, und nun muss man sich erst einmal wieder sammeln und neu fokussieren. Dies fällt aber wegen des aktuellen WTT-Turnierplans nicht allzu leicht. Außer den beiden Einzel-Olympiasiegern Fan Zhendong und Chen Meng erlaubte sich kein Chinese eine längere Pause. Auch die beiden Weltranglistenersten Wang Chuqin und Sun Yingsha eilten weiter von Event zu Event, bis Letztere sich während der Asienmeisterschaften verletzt zurückzog. So ist es kein Wunder, dass die Chinesen - wie auch die Topspieler der anderen Nationen - mal müde sind und sich nicht auf jedes einzelne Turnier zu hundert Prozent fokussieren können.
Die Turnierflut hat zudem die Folge, dass sich die Topspieler untereinander viel häufiger sehen, als das früher der Fall war. Während man sich vor der WTT-Ära seine Turniere noch mehr oder weniger rauspicken und auch mal längere Trainingsphasen erlauben konnte, ist die Teilnahme an vielen Events nun obligatorisch - und ein Fehlen wird mit Strafen sanktioniert. Wenn man nun häufiger gegeneinander spielt, lernt man den Gegner natürlich besser kennen und gewöhnt sich auch mehr und mehr an das hohe Level, auf dem die Chinesen unterwegs sind. Die Konkurrenz wächst daran und verkleinert die Lücke zu ihnen. Und mit jedem Sieg, die einem der Verfolger gelingt, schöpfen die Kollegen neuen Mut und die Illusion der Unbesiegbarkeit der Chinesen schwindet. Ob die neue Generation - nach einem möglichen Karriereende von Ma Long und vielleicht sogar Fan Zhendong - mit ihren Vorgängern in Sachen Dominanz mithalten kann, muss man noch abwarten. Lin Gaoyuan und Liang Jingkun ist auch früher immer mal wieder ein Patzer unterlaufen, Lin Shidong ist der Mann für die Zukunft, strahlt aktuell viel Stärke aus, steht aber noch am Anfang seines Weges und Wang Chuqin hatte bislang bei den prestigeträchtigsten Events immer seine Teamkameraden vor der Nase.
Schwächephase nicht überbewerten
Doch auch wenn sich die Misserfolge aktuell häufen, denke ich nicht, dass diese auffällige Schwächephase von Dauer ist. Die Chinesen haben auch in diesem Jahr bewiesen, dass sie, wenn es drauf ankommt, zu 100 Prozent abliefern - und das werden sie meiner Meinung nach auch künftig tun. Alles, was sie brauchen, sind nach diesem langen Olympiajahr nun eine Pause, Regeneration und Zeit, neue Energie zu tanken. Doch auch wenn Niederlagen gegen Nicht-Chinesen in Zukunft vielleicht nicht in der Fülle vorkommen wie zuletzt, glaube ich, dass wir sie aus den oben genannten Gründen immer öfter erleben werden. Die Weltspitze ist vor allem bei den Herren eng beieinander, die Konkurrenz, gerade auch aus Europa, hat Blut geleckt und will mehr. Die Chinesen werden weiterhin dominant sein, aber nicht mehr in der Art und Weise wie früher, was für die Popularität des Tischtennissports nur gut sein kann. Wir können uns auf ein spannendes Jahr 2025 freuen!
(JS)
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