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Jans Blog: Nicht mehr die Alleinherrscher Europas

Am Ende lief es früher oft zwangsläufig auf ein Duell zwischen Deutschlands Besten hinaus (©ITTF)

24.06.2019 - Es ist noch gar nicht lange her, da war bei europäischen Turnieren schon vorher klar: Wahrscheinlich wird der Sieger Timo Boll oder Dimitrij Ovtcharov heißen, im Team gibt es an Deutschland eh kein Vorbeikommen. Diese Zeiten, in denen die ‚Chinesen Europas‘ den Kontinent mehr oder weniger alleine beherrschten, sind aus der Sicht von Jan Lüke vorbei. In seinem Blog beschreibt er, wie sich die europäische Elite, die aktuell in Minsk aktiv ist, entwickelt hat.

Am Mittwoch wird einer der wichtigsten Titel im europäischen Tischtennis vergeben. Die European Games sind zwar noch ein junger Wettbewerb, der nach seiner Premiere vor vier Jahren dieser Tage im weißrussischen Minsk zum erst zweiten Mal ausgetragen wird. Doch schon jetzt genießen die ‚Olympischen Spielen Europas‘ sportlich einen hohen Stellenwert – zumindest im Tischtennis. Neben dem EM-Titel ist die Goldmedaille bei den Europaspielen wohl die begehrteste im europäischen Tischtennis. Dementsprechend strecken sich die besten Athletinnen und Athleten des Kontinents in dieser Woche nach dem Sieg und nebenbei auch nach der Qualifikation für die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Japan. Was man hat, das hat man.

Nicht mehr nur Deutschland

Doch der Wettbewerb in Minsk ist noch aus einem anderen Grund spannend. Die diesjährigen European Games sind auch ein Sinnbild dafür, dass der Wettstreit um die Spitzenplätze im europäischen Männertischtennis so ausgeglichen und offen ist wie seit vielen Jahre nicht mehr. Timo Boll oder Dimitrij Ovtcharov? Matthias Falck oder Vladimir Samsonov? Simon Gauzy oder Tomislav Pucar? Es war nicht waghalsig, vor dem Turnierstart tatsächlich einmal wieder von einem erweiterten Favoritenkreis zu sprechen, auch wenn sich einige der ambitioniertesten Starter wie Falck, Gauzy oder der Engländer Liam Pitchford schon früh aus dem Wettbewerb verabschiedeten. Andere hingegen, wie ein Patrick Franziska, durften in Minsk nicht starten, obwohl auch sie Titelkandidaten gewesen wären.

Ein Turnier, für das sich eine Handvoll oder mehr Spieler sehr berechtigte Titelchancen machen dürfen – das mag nicht außergewöhnlich klingen. Im Fall des europäischen Spitzentischtennis ist es das aber doch. Der Kampf um Europas Thron war in den vergangenen Jahren meist gleichbedeutend mit der Frage, ob die beiden besten deutschen Topstars, Boll und Ovtcharov, die Angriffe der Außenseiter würden abwehren können. Das gelang meistens. Nachdem die goldene Generation im europäischen Tischtennis um Waldner, Persson, Saive oder Kreanga, die den Sport in den 90er und 00er Jahren geprägt hatten, nach und nach abgedankt hatte, teilten sich die beiden Deutschen die allermeisten Titel auf. Erst dominierte Boll Europa, dann sein langjähriger Kronprinz Ovtcharov, der für einige Saisons die unangefochtene Nummer eins in Europa war, nur Samsonov war dauerhafte Konkurrenz. Es gab in den vergangenen Jahren Turniere, in denen man es sich nicht vorstellen konnte, dass Ovtcharov gegen einen Europäer verlieren könnte. Wenn Boll und Ovtcharov doch mal leer ausgingen, wie 2016 beim EM-Triumph von Emanuel Lebesson, war das eine Sensation, meist noch begleitet von gesundheitlichen Problemen des DTTB-Duos.

So herausragend die Erfolge für die deutschen Herren, so spannend ihre Angriffe auf die besten Chinesen waren - um die Spannung und Abwechslung im europäischen Wettbewerb war es in etwa so bestellt wie in der deutschen Fußballmeisterschaft. Neue Gesichter? Fehlanzeige! (zu Jans Blog zum Thema)

Ovtcharov noch nicht wieder der Alte

Die kontinentale Ordnung aber gerät derzeit ins Wanken. Es scheint keine Gesetzmäßigkeit mehr zu sein, dass am Ende Boll oder Ovtcharov die Titelträger sind. Zum einen hängt das damit zusammen, dass zuletzt viele Akteure eine äußerst positive Entwicklung genommen haben. Spieler wie Patrick Franziska, Vizeweltmeister Matthias Falck und Xu-Xin-Bezwinger Simon Gauzy scheinen, den nächsten Schritt in die Weltspitze gemacht zu haben. Sie überraschen nicht mehr nur vereinzelt mit guten Resultaten, sie spielen konstanter – auch wenn sie diese These nach vielen guten Monaten just mit ihren Niederlagen in Minsk schwächten. Falck & Co. können nicht nur Ovtcharov und Boll jederzeit gefährden. Sie können mittlerweile auch die besten Asiaten herausfordern. Und überhaupt: Die Herausforderer sind mittlerweile eben zahlreich, dazu zählen eben auch Tomislav Pucar, Kristian Karlsson oder Liam Pitchford.

Zum anderen ist gerade Ovtcharov seit seiner Verletzungspause im Frühjahr 2018 noch nicht wieder der Spieler, der er in seinem besten Karrierejahr 2017 war. Zwar hat Ovtcharov das Europe Top 16 im Februar in Montreux gewonnen und spielt teilweise überragende Wettkämpfe wie das Champions-League-Hinspiel, das er für den TTC Fakel Gazprom Orenburg  unter anderem mit einem Sieg gegen Fang Bo fast im Alleingang gewann. Aber der einstige Regent Europas und Herausforderer der besten Chinesen ist nach seiner hartnäckigen Hüftverletzung weniger dominant als früher, auch wenn er nach wie vor der Spieler mit dem höchsten Maximum und größten Potenzial in Europa ist.

Wenn Boll oder Ovtcharov am Mittwoch als European-Games-Sieger in die Geschichte eingehen, wäre das zwar keine Überraschung. Aber es wäre auch keine Sensation mehr, wenn sich ein anderer Spieler Gold holte. Für das europäische Tischtennis ist das eine erfreuliche Entwicklung.

(Jan Lüke)

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