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Dietmars Blog: Boll 4.0 ein 'Weltmeister der Herzen'

Für seine Fans, deren Autogrammwünsche er stets geduldig erfüllt, ist Timo Boll ein 'Weltmeister der Herzen' (©Thomas)

06.05.2019 - Timo Bolls unfreiwilliges Aus bei den Weltmeisterschaften in Budapest unmittelbar vor wenigstens einer Medaille schmerzt die deutsche Tischtennis-Gemeinde immer noch sehr. Doch selbst wenn das deutsche Idol tatsächlich irgendwann ohne eine Krönung durch einen WM-Titel oder Olympia-Gold zurücktreten sollte, gebührt Boll nach Ansicht unseres Bloggers Dietmar Kramer doch außerordentliche Anerkennung.

Vermag man sich Timo Bolls Gefühlslage bei der WM in Budapest am Tag der Absage seines Einzel-Achtelfinals und kurz darauf auch seines Doppel-Viertelfinals mit Patrick Franziska vorzustellen? Mag man es überhaupt versuchen? Es bedarf sicherlich nur wenig Empathie und kaum mehr Fantasie für die Nachempfindung von Bolls fast tragischer Situation: Da sind gleich zwei WM-Medaillen, was selten genug vorkommt, zum Greifen nahe, erscheinen sogar beinahe schon abholbereit; da sind außerdem Chancen entstanden zu womöglich noch mehr, zu etwas Einmaligem – und dann haut einen der eigene Körper mit geradezu brachialer und ultimativer Gewalt mal eben schlichtweg aus der Bahn. Welch ein Emotionsmix aus Ungläubigkeit, Hilflosigkeit, Hoffnung, Enttäuschung, Ärger, Wut, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Einsicht ins Unvermeidliche und schließlich Kapitulation muss Boll zusätzlich zu seinem hohen Fieber auf dem Krankenlager durchschüttelt haben! Nein, wenn man auch nur im Ansatz ein Sportlerherz besitzt, möchte man sich Bolls Seelenleben, mutmaßlich seine Seelenqual in jenen Stunden lieber nicht vorstellen. Man möchte einzig am liebsten schreien. Schreien über so viel Ungerechtigkeit im Leben. 

Es war Boll natürlich gleichwohl abzunehmen, als er kurz nach der Heimkehr aus Budapest die nächsten Einzel-Weltmeisterschaften 2021 in Houston/US-Bundesstaat Texas als neue Chance bezeichnete. Sportsmann durch und durch, akzeptiert Boll eben auch Tiefschläge als Bestandteil seines Sport, der seine ganze Passion ist.

Mitgefühl aus aller Welt durch Leistung und Haltung

Doch als Sportsmann weiß Boll auch nur zu gut um die außergewöhnliche Dimension der Chancen von Budapest: Eine von vornherein günstige Auslosung, wenn nicht gar die beste Konstellation seiner gesamten Karriere bei WM-Turnieren, mit einem wohl unvermeidlichen Kontrahenten aus China frühestens im Halbfinale, der als Sahnehäubchen auf die äußerst glücklichen Fügungen schon früh ausschied und damit im Zuge eines bemerkenswerten Favoritensterbens den Weg bis ins Endspiel beinahe schon frei machte, und natürlich nicht zuletzt seine rechtzeitig wiederkehrende Topform: Diese einmalige Gemengelage ließ plötzlich wieder Träume zu, die Boll womöglich gar nicht mehr zu träumen gewagt hatte. Letztlich aber auch Träume, die ein heimtückischer Virus wie Seifenblasen zerplatzen ließ. Boll ist jedoch eben zu sehr Sportsmann, um über den fraglos großen Schmerz durch die entgangenen, ja die geraubten Möglichkeiten zu klagen. Nicht nur die deutsche Tischtennis-Gemeinde leidet – immer noch – still mit.

Aus gutem Grund. Denn wie wohl nur wenige andere hat Boll die Krönung einer mehr als außergewöhnlichen Laufbahn verdient. Mittlerweile soll schon die vierte Generation aus Chinas Champions-Schmiede das deutsche Idol immer noch in Schach halten. Trotz einer wahrhaftigen Armada von Weltmeistern und Olympiasiegern aus dem Reich der Mitte hat Boll den Chinesen in seiner langen Laufbahn immer wieder wenigstens ein Schnippchen schlagen können und so ziemlich alles gewinnen können, was im Tischtennis zu gewinnen ist. Fast alles jedenfalls. In seiner Sammlung fehlt Boll auch nach und trotz gut 20 Jahren in der absoluten Weltelite immer noch einer der beiden größten Titel überhaupt: Weltmeister und Olympiasieger hat der Düsseldorfer, der 2003 erster deutscher Weltranglistenerster war und 15 Jahre später zum vierten Mal die Spitzenposition im Computer-Ranking eroberte, bisher nicht werden können.

Bolls härteste Gegner: die ‚chinesische Mauer‘ und sein Körper

Zumeist scheiterte Boll – ob in Einzel, Doppel oder auch mit der Mannschaft – an der ‚chinesischen Mauer‘. Spätestens vor dem letzten Schritt in die sportliche Unsterblichkeit stellte sich wenigstens ein Ass aus China dem ‚Staatsfeind Nummer eins‘, wie Boll im Reich der Mitte einst ehrfürchtig und mittlerweile voller höchstem Respekt und Verehrung genannt wird, erfolgreich in den Weg und verhinderte die finale Krönung eines der Größten im Tischtennis überhaupt. Dennoch zählte erst kürzlich die renommierte Süddeutsche Zeitung Boll zu den zwölf größten deutschen Sportlern aller Zeiten, und Der Spiegel nahm „den heimlichen Superstar“ kurz vor Budapest auch ohne großen Titel in seine ‚Hall of fame‘ des deutschen Sports auf.

Mitunter aber musste Boll bei wichtigen Turnieren nicht vor sportlichen Gegnern kapitulieren, sondern allein – wie nun wieder in Budapest - vor seinem eigenen Körper. Unvergessen sein Zusammenbruch nach dem verlorenen WM-Finale 2005 in Shanghai im Doppel mit Christian Süß – wegen Fiebers. Noch frischer in Erinnerung ist seine Aufgabe im EM-Halbfinale 2016 – ebenfalls in Budapest - wegen neuerlicher Nackenprobleme. Boll ist ein unerreichter Meister, Rückschläge zu verkraften und sich immer wieder neu zu erfinden. Boll ist also eigentlich schon mindestens Boll 4.0 - aber Boll ist eben auch schon 38 Jahre alt. Spätestens nach dem Drama von Budapest, das in Anbetracht aller Umstände schon einer sportlichen Tragödie gleichkam, muss er mehr denn je ernsthaft ein Karriereende als Unvollendeter befürchten – trotz drei Olympia-Medaillen (einmal Silber), acht WM-Medaillen (sechsmal Silber), zwei Weltcupsiegen, 18 EM-Titeln, rund 20 World-Tour-Erfolgen, 13 DM-Triumphen, 6 Siegen beim Europe-Top-12/16 und, und, und.

Beispiel Waldner gibt Mut und Zuversicht

Auch wenn Boll in Budapest „das Herz blutete“, will der Topstar nicht als tragischer Held der Tischtennis-Welt abtreten und sich nicht mit einem solchen Sportlerschicksal abfinden. Seine forschen Töne von einem erneuten Anlauf in zwei Jahren entsprechen zweifellos dem Ehrgeiz und Sportsgeist des Publikumslieblings und sind auch gar nicht als eine bloße Trotzreaktion zu werten. Schon mehrere große Spieler wie früher die schwedischen Ikonen Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson oder auch der immer noch aktive Weißrusse Vladimir Samsonov konnten auch jenseits der 40 Jahre immer noch bedeutende Erfolge feiern. Mit immerhin fast 40 kam Waldner bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen zwölf Jahre nach seiner Goldmedaille in Barcelona sogar noch einmal ins Halbfinale – nach Siegen über den chinesischen Topfavoriten Ma Lin und danach auch über Boll.

Der „Mozart des Tischtennis“, der vielen immer noch als bester Spieler aller Zeiten gilt, taugt denn auch sehr gut als Vorbild für den kaum minder mit Talent gesegneten Boll. Zumal Boll seinem empfindlichen Körper in Zeiten eines immer brutaleren Terminkalenders mehr und mehr die notwendige Beachtung und Pflege schenkt. Bundestrainer Jörg Roßkopf ist auch zu erfahren, um einer billigen Schlagzeile wegen leichtfertig „noch ein paar Meisterschaften“ für seinen Ausnahmekönner vorauszusagen. Das Beispiel Waldner kann somit auch als Mutmacher für ‚The Legendary‘ dienen. Anders nämlich als das Leben ist der Sport in aller Regel gerecht. Hält man lange genug durch, gleichen sich Härten im Laufe einer Karriere mit einiger Gewissheit aus.

Unabhängig vom Ausgang weiterer WM- und Olympia-Turniere allerdings hat Boll nach und auch wegen Budapest mindestens einen ‚Titel‘ sicher;: als ‚Weltmeister der Herzen‘.

(Dietmar Kramer)

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