Parasport

Nicht "behindert" genug? Andrees geht ihren Weg

Ihre Beeinträchtigung ist nicht sofort erkennbar: Parasportlerin Luise Andrees. (©Privat)

15.08.2024 - Luise Andrees spielt Tischtennis, seit sie 13 Jahre alt ist. Beeinträchtigt ist sie von Geburt an. Sie und ihre Zwillingsschwester Clara kamen mit der Fetalen Alkoholspektrumstörung (kurz FASD) auf die Welt. Also mit irreversiblen Schäden, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Den Weg in den Parasport fand Andrees allerdings erst spät. Die Hürden, die ihr dabei im Weg lagen, kamen nicht nur von anderen – sie musste selbst erst einmal überzeugt werden. Heute ist sie deutsche Vize-Meisterin.

Mit 13 Jahren hat Luise Andrees mit dem Tischtennissport angefangen. Im Regelsport spielt sie in der nun beginnenden Saison in der dritten Landesklasse mit dem Verein Potsdamer Sport-Union. Bereits 2019 wurde sie von einem Landestrainer in Berlin gefragt, ob sie nicht mit Paratischtennis beginnen möchte. Andrees lehnte ab. „Ich habe damals überhaupt nicht verstanden, warum ich zum Parasport gehen kann oder sollte.“ Während die Para-Community in Berlin also auf sie zugegangen ist und sie bereits aufnehmen wollte, ging Andrees zunächst auf Abstand.

Nahezu normaler Alltag – für den Parasport noch nicht bereit

Die Zwillingsschwestern Luise und Clara haben ihre Diagnose Fetale Alkoholspektrumstörung bereits mit drei Jahren bekommen und hatten dadurch früh gute Therapiemöglichkeiten. „Das hat uns geholfen, jetzt ein nahezu normales Leben führen zu können“, erzählt Luise. Im Alltag eingeschränkt sei sie bis auf wenige Ausnahmen kaum. „Bei Ärzten fühle ich mich alleine unwohl, weil ich Angst habe, dass ich die Gespräche nicht verstehe“, erklärt sie. Bei Amtsgängen und wenn sie die Post öffnet, sucht sie sich aufgrund der kognitiven Einschränkung ebenfalls gerne Unterstützung.

Gerade weil sie aber ein nahezu normales Leben führen kann, war es für sie 2019 völlig abwegig, im Parasport zu starten. „Ich war noch nicht bereit. Ich habe mich nicht getraut, mich mit meiner Diagnose zu befassen.“ Drei Jahre später war das anders. Mittlerweile setzen sich die beiden Zwillingsschwestern in der Aufklärungsarbeit zu FASD ein. Luise Andrees fasste sich ein Herz und fragte beim Landestrainer an – mit Erfolg. Sie wurde offen aufgenommen und willkommen geheißen. Seit Mai 2023 spielt sie nun zusätzlich zum Regelsport beim Paralympischen SportClub Berlin, im selben Jahr durfte sie außerdem bei den deutschen Meisterschaften in Sindelfingen, südwestlich von Stuttgart, starten.

Erster Eindruck: „Ich hatte das Gefühl, ich darf da nicht sein.“

Parasportlerinnen und -sportler werden für unterschiedliche Startklassen entsprechend des Grades der Beeinträchtigung klassifiziert. Das dient der bestmöglichen Vergleichbarkeit der Leistungen. Für die nationale Klassifizierung benötigte Andrees einige Unterlagen, etwa Gutachten von Ärzten, die sie nicht dabei hatte. „Ich wusste nicht, dass ich diese Dokumente brauche“, erklärt sie. Entsprechend konnte sie nicht klassifiziert werden. Allerdings durfte sie in der offenen Klasse AB für Menschen ohne Klassifizierung starten.

Ein halbes Jahr später hatte sie alle Dokumente zusammen, sodass sie 2024 bei den deutschen Meisterschaften im Paratischtennis in ihrer Klasse starten konnte. Klasse 11 ist diejenige für Sportlerinnen und Sportler mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Im ersten Moment fühlte sich Andrees jedoch nicht wohl. Ihr Eindruck: „Andere Trainer und Spieler haben mich angeschaut und sich gefragt, warum ich in der Klasse spielen darf, weil ich nicht behindert genug aussehe“, blickt Andrees zurück. Anfangs sei sie in Sindelfingen sehr verunsichert gewesen. „Ich hatte das Gefühl, ich darf da nicht sein.“ In ihrem Eindruck von den anderen Trainern und Spielern spiegelt sich die Frage, die sie sich einige Jahre zuvor selbst gestellt hat: „Was soll ich im Parasport?“ Am Ende wurde sie deutsche Vizemeisterin.

Einerseits ist da also der Erfolg im Parasport, außerhalb des Regelsports, andererseits ist es ihr wichtig, mit ihrer Aufklärungsarbeit zu zeigen, dass ein normales Leben möglich ist. Wie passt das zusammen? „Ich möchte zeigen, dass ich trotz meiner Behinderung im Leistungssport antreten kann, dass sich beides gut miteinander kombinieren lässt und man alles schaffen kann, wenn man es möchte“, erklärt die Potsdamerin. Während in der Regel von Beeinträchtigungen oder Handicaps gesprochen wird, nutzt Andrees bewusst die häufig eher negativ konnotierte Bezeichnung „Behinderung“ für sich. „Fakt ist, dass ich eine Behinderung habe und dass man das auch aussprechen muss. Behinderung sollte man ganz objektiv betrachten und nicht gleich als abstempeln sehen.“

Viel Überzeugungsarbeit auf dem Weg zum ersten internationalen Turnier

Im Juni spielte sie ihr erstes internationales Turnier – die ITTF Czech Para Open in Ostrava (Tschechien). Dafür benötigte sie jedoch eine internationale Klassifizierung. Die sei komplexer als die nationale. Unter anderem musste sie dafür zu einem Psychologen. In der gesamten Bundesrepublik gebe es einen einzigen für Tischtennis-Parasportler. Und so musste Andrees im Vorfeld von Berlin nach Dortmund fahren. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, das war alles easy. Ich habe mich oft unwohl und nicht verstanden gefühlt. Ich musste mich immer wieder erklären, dass jemand mit FASD im Parasport spielen kann. Auch der Psychologe kannte das Krankheitsbild zunächst nicht und dachte, ich will mich da reinmogeln“, erzählt die Heilerziehungspflegerin. „Irgendwann hat er mich ernst genommen.“ Am Ende hat sich ihr Einsatz jedoch gelohnt. Ihrem Start in Tschechien stand nichts mehr im Weg. Weitere internationale Turniere sollen folgen, doch aktuell ist sie aufgrund einer Bänderverletzung ausgebremst.

Die Paralympics, die am 28. August in Paris beginnen, verfolgt Andrees aus der Heimat. „Ich hoffe, dass man es verfolgen kann. Natürlich bin ich am meisten auf die Tischtennis-Wettkämpfe gespannt, weil ich eigentlich fast alle Spielerinnen und Spieler wenigstens vom Sehen kenne.“ Mittlerweile ist sie regelmäßig zu Lehrgängen des Nationalkaders in Düsseldorf – sofern sie es mit ihrem Beruf als Heilerziehungspflegerin in einer Wohngemeinschaft mit Menschen mit Beeinträchtigungen im Schichtdienst vereinbaren kann. Den Weg von Berlin in die Rheinmetropole nimmt sie gerne auf sich.

In vier Jahren in Los Angeles hofft die 30-Jährige selbst am Tisch zu stehen. „Das wäre auf alle Fälle mal ein Ziel, wenn ich dran bleiben kann und dem Druck standhalte, in LA dabei zu sein.“ Spätestens dann wird sie sich dankbar an den Landestrainer erinnern, der sie bereits 2019 in den Parasport holen wollte, als sie noch nicht dazu bereit war. Mittlerweile ist sie im Parasport angekommen.

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(AT)

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