27.06.2024 - Knapp sechs Monate ist es her, dass Ying Han sich in der zweiten Runde des WTT Star Contenders in Doha die Achillessehne riss. Nun ist sie wieder da, steht im deutschen Aufgebot für die Olympischen Spiele und wird nächste Woche in Thailand ihr erstes Turnier nach der Verletzung bestreiten. Wir haben die Abwehrspielerin beim Training besucht und erfahren, wie sie so schnell wieder auf die Beine gekommen ist und wie sie sich vor ihrem Comeback fühlt.
„Letzte Woche hatte ich einen Alptraum“, verrät Ying Han und lacht. „Ich habe geträumt, dass ich wieder bei einem Turnier bin, aber die Halle und Umkleidekabinen nicht mehr finde.“ Solch ein Szenario wird die beste deutsche Abwehrspielerin wohl nicht daran hindern, nächste Woche, bei ihrem ersten Turnier seit ihrem Achillessehnenriss im Januar, Spiele zu gewinnen. Und auch von ihrem Körper scheint sich die 41-Jährige nicht mehr aufhalten zu lassen, wie man Anfang der Woche im Training mit ihrem Mann Lei Yang im Deutschen Tischtenniszentrum beobachten konnte. Die schwere Verletzung, die sich Han im Januar in der zweiten Runde des WTT Star Contenders in Doha zuzog, ist ihren Bewegungen nicht mehr anzusehen. Beim genaueren Blick auf ihren Fuß zeugt jedoch noch eine dicke Narbe von der Operation nach dem Unglück, die ihr auch noch etwas wehtut. Ansonsten fühle sich die Defensivspezialistin zu 80 Prozent wieder fit. „Und bis Olympia werden es 100 Prozent sein“, ergänzt Bundestrainerin Tamara Boros.
„Ich habe nur noch geheult“
Seit einem Monat ist Ying Han nun wieder im normalen Training. Dass es so lange dauern würde, bis sie ihrem Sport wieder wie gewohnt nachkommen kann, hätte sie in dem Moment, als sie gegen Jeon Jihee wegen einer kleinen Unebenheit auf dem Boden umknickte, nicht gedacht. „In der Klinik in Doha hieß es dann: Das dauert sechs bis neun Monate“, erinnert sich Han, die sechs Monate später Deutschland bei den Olympischen Spielen vertreten wollte. „Da bin ich ausgerastet, ich konnte einfach nicht mehr und habe nur noch geheult. Das war ein sehr schlimmer Moment.“ Ihr Mann habe sie dann wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. „Er sagte, denke nicht daran, dass es die Olympischen Spiele sind, sondern behandele es so wie irgendein Turnier. Dann tun wir alles, was wir können. Und wenn es nicht klappt, dann ist es so“, erzählt Han. „Da war mir klar, dass Weiterheulen nichts bringt.“
Stattdessen schaltete die zweifache Europe-Top-16-Siegerin in den Aktionsmodus und tat fortan alles, was einen positiven Effekt auf die Heilung versprach. „Und wenn es nur ein Prozent hilft, tue ich es trotzdem“, lacht Han. „Am Ende erhöht es vielleicht doch ein bisschen die Chance, noch zu den Olympischen Spielen zu fahren.“ Neben den medizinischen Maßnahmen achtete sie verstärkt auf ihre Ernährung, aß weniger Fleisch und Süßigkeiten, ging fünfmal pro Woche jeweils drei bis fünf Stunden zur Physiotherapie und hielt ihren restlichen Körper fit für den Moment, an dem der Fuß wieder voll einsatzfähig war. Und auch den Tischtennisschläger konnte sie nicht aus der Hand legen. Am Tischtennistisch im heimischen Keller legte sie private Einzelstunden bei ihrem Mann ein und sprach in der Zeit auch oft mit ihm über ihre Technik. „Er hat viel an meinem Spiel korrigiert - so konnte ich in der Zeit auch eine Menge lernen“, verrät sie. „Ich habe nichts Entscheidendes umgestellt, das ist bei meinem Spielstil auch schwierig. Aber ein paar Kleinigkeiten habe ich verändert und das macht schon viel aus.“
Wettlauf mit der Zeit gewonnen
Doch nicht nur von ihrer Familie, aus allen Richtungen erfuhr Ying Han Unterstützung, wofür sie große Dankbarkeit empfindet. Auch von ihren Teamkameradinnen kamen aufmunternde Worte und kleine Präsente, die sie in ihrer positiven Einstellung bestärkten. Am Ende haben alle Mühen geholfen: Ying Han hat den Wettlauf mit der Zeit gewonnen, ist wieder im Training und bringt hier nicht nur Bundestrainerin Tamara Boros durch ihre Fortschritte zum Staunen. In den ersten Wochen habe sie sich zwar noch nicht so recht getraut. „Mein Mann sagte, das musst du, aber ich habe ihm nicht geglaubt, bis mein Physiotherapeut sagte, dass ich das darf und meinem Körper vertrauen muss. Schritt für Schritt habe ich dann mehr gemacht“, erzählt Han. Der Körper sei nun wieder in Ordnung, aber der Kopf müsse sich noch von der Angst freimachen, dass so etwas noch einmal passieren könnte. Hierfür arbeitet sie auch mit ihrer ehemaligen Nationalmannschaftskollegin und Physiotherapeutin Kristin Lang zusammen, mit der sie die negativen Erinnerungen überwinden will.
Ein Schritt auf diesem Weg könnte auch das WTT Star Contender in Bangkok nächste Woche sein, wo sie zum ersten Mal seit Januar wieder einen Wettkampf bestreitet. „Ich fahre nicht meinetwegen nach Thailand, sondern für die Mannschaft. Damit wir in Paris eine gute Setzung haben“, erklärt Han. „Würde ich nicht teilnehmen, hätte ich im Einzel einen Vorteil. Aber ich tue alles für die Mannschaft.“ Tatsächlich würde ihr nur noch eine spielfreie Woche fehlen, um von der ‚Ranking Protection‘ zu profitieren, die Spieler in Anspruch nehmen können, die sechs Monate oder länger verletzt waren und in der Zeit keine Turniere gespielt haben. Damit könnte Han, die in der Weltrangliste auf Platz 34 abgerutscht ist, in Paris im Einzel nach ihrer Top-10-Platzierung von Januar gesetzt werden - für Teamkonkurrenzen gilt diese Regelung aber nicht. Für die Mannschaft wäre es also besser, wenn sie ihre jetzige Weltranglistenplatzierung noch nach oben schraubt, was ihr in Thailand leichtfallen wird. Schließlich hat sie wegen der langen Pause nur noch vier von acht möglichen Turnieren, die für die Weltrangliste zählen, auf dem Punktekonto, so dass jedes neue Ergebnis in die Rechnung miteinfließt. Nichtsdestotrotz empfindet Han nun etwas Druck. „Ich fahre ja nun nicht nur dahin, um ein besseres Spielgefühl zu bekommen, sondern habe die wichtige Aufgabe, Punkte für die Mannschaft zu sammeln“, blickt Han auf das Turnier, zu dem sich etwa auch das japanische Olympia-Team angemeldet hat. „Ich werde alles für die Mannschaft geben, aber die Hauptsache ist, dass ich gesund zurückkomme.“
Olympia-Medaille im Visier
Keine Frage, denn schon in einem Monat wird Ying Han im olympischen Einzel- und Teamwettbewerb gebraucht. Nach dem langen Kampf um die schnelle Heilung treten nun, da dieser gewonnen ist, auch ihre sportlichen Ambitionen wieder in den Vordergrund. Schließlich hatten die deutschen Damen in Tokio 2021 Bronze nur knapp im ‚kleinen Finale‘ gegen Hongkong verpasst. „Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich das jetzt geschafft habe“, sagt Ying Han. „Aber jetzt möchte ich zeigen, dass ich wieder gut spielen kann. Und dann natürlich auch eine Medaille gewinnen.“ Es wäre ohne Frage das perfekte Happy-End für eine ungewöhnliche Krankengeschichte.
(JS)
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