Paralympics 2021

Volker Ziegler: „Keine Ahnung, wo wir stehen"

Volker Ziegler (l.) macht seinen Schützlingen keine Medaillenvorgaben (©Fabig)

20.08.2021 - Nach den Olympischen Spielen stehen nun die Paralympics in den Startlöchern, um die Sportbegeisterten vor den internationalen Fernsehern zu begeistern. Para-Bundestrainer Volker Ziegler reiste in dieser Woche mit seinem Team nach Tokio und beantwortete auf dem Weg zum Flughafen unsere Fragen. Im Interview erzählt er, welche besonderen Herausforderungen diese Paralympics-Ausgabe mit sich bringt, nachdem so lange keine Wettkämpfe stattgefunden haben.

myTischtennis.deWie intensiv hast du die Olympischen Spiele verfolgt? Schaut man sie anders, wenn man weiß, dass man in wenigen Wochen selbst vor Ort sein wird?

Volker Ziegler: Sehr intensiv. Wir hatten parallel dazu einen Lehrgang in Düsseldorf, da war das oft Thema. Und natürlich schaut man dann auch mal, ob man etwas über die Rahmenbedingungen herausfinden kann, zum Beispiel, ob die Teams als Zuschauer auf der Tribüne zugelassen sind.

myTischtennis.deZuschauer wird es ja - wie bei den Olympischen Spielen - auch bei den Paralympics kaum geben. Bist du im Team Pro oder Contra Zuschauer?

Volker Ziegler: Ich bin im Team „Es ist, wie es ist“. Ich bin kein Fachmann für epidemiologische Fragen und es wäre vermessen, da mitreden zu wollen, was sinnvoll ist. Wir versuchen einfach, das Beste draus zu machen.

myTischtennis.deDie Coronazahlen sind ja aktuell auf einem Hoch in Tokio. Wie mulmig ist bei dir das Gefühl, jetzt in diese Stadt zu fahren?

Volker Ziegler: Gar nicht mulmig. Die Zahlen sind für japanische Verhältnisse hoch, das stimmt. Aber in Deutschland hatten wir schon deutlich höhere Zahlen. Zudem werden wir in Tokio komplett in unserer Bubble abgeschirmt sein. Das heißt, dass wir keinen Kontakt zur Stadtbevölkerung haben werden und die Infektionslage dort für uns nicht relevant ist.

myTischtennis.deIst es aus deiner Sicht richtig, dass sowohl die Olympischen Spiele als auch Paralympics in diesem Jahr ausgetragen werden?

Volker Ziegler: Aus meiner Sicht kann ich die Frage eindeutig mit „ja“ beantworten. Aber es gibt da natürlich eine Menge Sichtweisen. Zum Beispiel die der japanischen Bevölkerung, die erst große Bedenken hatte und sich dann durch die Erfolge der Japaner von der Begeisterung hat anstecken lassen. Oder die Sicht des japanischen Staats, der Sponsoren, des Internationalen Paralympischen Komitees und der Fernsehsender, die wirtschaftliche Interessen haben. Oder die der Sportler, die auch ganz eindeutig ist: Für sie wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn die Spiele ausgefallen wären. Fünf Jahre zu warten, war schon schlimm. Aber acht Jahre? Das wäre katastrophal gewesen. Alle Sichtweisen haben ihre Berechtigung, aber ich denke für die Sportler und bin daher sehr froh, dass die Spiele stattfinden.

myTischtennis.deIch bin mir sicher, dass die Olympia-Delegation bereits eine Menge Erfahrungen an euch weitergegeben hat. Wie eng ist da der Kontakt?

Volker Ziegler: Richard Prause (Sportdirektor des DTTB, Anm. d. Red.) kenne ich bereits seit über 20 Jahren. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis und ich schätze ihn sehr. Er hat in den letzten Wochen auch selbstständig daran gedacht, hilfreiche Dinge mit uns zu teilen, was unheimlich wichtig war. Zwischen den Spielern besteht auch Kontakt, zum Beispiel zwischen Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll, Tom Schmidberger und Valentin Baus. Aber bei ihnen haben wir uns mit Anfragen sehr zurückgehalten, denn die Spieler sind während des Turniers natürlich im Tunnel. Da hat man einen anderen Fokus, das kennen wir.

myTischtennis.deGibt es trotz der Tipps organisatorische Dinge, um die du dir aktuell noch Sorgen machst?

Volker Ziegler: Die siebenstündigen Einreiseformalitäten am Flughafen zu überstehen, da habe ich am meisten Respekt vor. Das braucht nach einem elfstündigen Flug kein Mensch - aber für manche(n) Rolli ist das noch mal ungünstiger. 

myTischtennis.deKommen wir mal zum Sportlichen… In Rio gab es für euch viermal Silber. Was habt ihr euch für diese Paralympics vorgenommen?

Volker Ziegler: Wenn ich viermal Silber höre, tut mir das natürlich schon ein bisschen weh, weil wir gerne auch Gold geholt hätten. Aber man muss realistisch sehen, dass wir im Finale dreimal gegen China und einmal gegen Sandra Paovic verloren haben und wir uns keine Vorwürfe machen können. Natürlich würden wir gerne in Tokio den großen Wurf machen, aber es gibt keine Medaillenansage von mir ans Team. Wenn wir keine Medaille holen, aber jeder sein Maximum abgerufen hat, werden wir auch zufrieden sein. Wir hoffen aber natürlich, dass wir irgendwann die erste Medaille holen und die anderen dann folgen. Denn oft steckt in solchen Turnieren eine eigene Dynamik drin. Die Niederlage von Franziska/Solja im Mixed hätte bei den Olympischen Spielen zum Beispiel auch zu einer Negativspirale führen können. Oder in was für einer Verfassung wäre Dimitrij Ovtcharov im Teamwettbewerb gewesen, wenn Lin Yun-Ju im Einzel einen seiner Matchbälle um Bronze genutzt hätte? Das kann ganz schnell gehen und dann steht man ohne Medaille da. Wir wollen als Team in den Wettbewerb reinfinden und dann zieht der eine den anderen mit hoch. Die Olympioniken haben uns das vorgemacht.

myTischtennis.deIhr musstet wegen Corona lange auf Vergleiche mit der internationalen Konkurrenz verzichten, was natürlich ein Problem ist, mit dem die meisten Nationen zurechtkommen mussten. Seht ihr euch da eher im Vor- oder Nachteil, z.B. gegenüber den starken Chinesen?

Volker Ziegler: Die Problematik beginnt schon im Training. Die Osteuropäer und Asiaten konnten in dieser Zeit durchtrainieren und hatten wechselnde Trainingspartner zur Verfügung. Zwar konnten auch wir fast durchgängig in die Halle, aber uns fehlten die Trainingspartner aus den Landesstützpunkten, Vereinen und dem Ausland. Unsere Spieler konnten nur untereinander und mit den Trainern trainieren. Das ist sicher kein Vorteil für uns. Die Stimmung ist zwar gut und wir haben große Lust auf den Wettbewerb. Aber eine Prognose fällt schwer, da wir keine Ahnung haben, wo wir gerade stehen.

myTischtennis.deIm Vergleich zu Rio wird es mehr Medaillen zu gewinnen geben, unter anderem weil das kleine Finale wegfällt und beide unterlegenen Halbfinalisten Bronze bekommen. Bist du ein Befürworter dieser Reform? 

Volker Ziegler: Ja, ich befürworte das eindeutig. Denn ganz ehrlich: Niemand will in der Haut eines Sportlers stecken, der gerade sein Halbfinale verloren hat und dann darum spielen muss, nicht mit leeren Händen dazustehen. Das sind ganz bittere Spiele, die keiner braucht.

myTischtennis.deEs gibt noch eine andere Neuerung, die ebenfalls zu mehr Medaillen führt. Und zwar werden die Wettkampfklassen im Teamwettbewerb etwas weniger großzügig zusammengefasst. Kommt das den deutschen Sportlern zugute?

Volker Ziegler: Das kommt allen zugute. Denn dass bei den Damen die Wettkampfklassen 6 bis 10 zusammengelegt wurden und Spielerinnen der Klasse 6 gegen eine Natalia Partyka spielen mussten, war komplett unfair. Also, dieser Schritt war längst überfällig. Wir profitieren davon wie alle anderen, aber es ist jetzt nicht so, dass wir dadurch eine Medaille sicher hätten. Aber, und das ist das Wichtige, die Wettkämpfe werden dadurch deutlich fairer.

myTischtennis.deDie Paralympics sind ja immer die große Bühne, auf der der Behindertensport eine der wenigen Möglichkeiten bekommt, sich zu präsentieren. Was erhoffst du dir abgesehen von den Erfolgen deiner Sportler von Tokio 2020?

Volker Ziegler: Wir erhoffen uns, dass wir Aufmerksamkeit gewinnen, die uns für den Nachwuchsbereich helfen kann. Oder dass Spieler, die eine leichte Behinderung haben, vor Augen geführt bekommen, dass sie mit ihrem Handicap auch im Para-Sport aktiv sein können - sogar parallel zum sonstigen Ligabetrieb. Was die mediale Berichterstattung angeht, bin ich dagegen inzwischen etwas desillusioniert. Da haben wir positive Beispiele wie myTischtennis und leider auch solche, die sich nur alle vier Jahre für uns interessieren. Da hilft es nicht, wenn zwei Tage vor Abflug noch Redaktionen anrufen und eine inhaltliche Einarbeitung ihrer fachfremden Mitarbeiter erbitten. Aber prinzipiell erhoffen wir uns natürlich alle vier Jahre einen nachhaltigen Popularitätsschub.

(JS)

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