15.01.2021 - Die Olympischen Spiele sind der Traum eines jeden Sportlers. Und die Paralympics eines jeden Sportlers mit Behinderung. Björn Schnake verfolgte bis vor kurzem weder das eine noch das andere Ziel. Olympia nicht, weil die Qualifikation schlicht utopisch erschien, die Paralympics nicht, weil er nicht wusste, dass er mit seinem Handicap startberechtigt wäre. Seitdem er das weiß, gibt er Vollgas für Tokio 2021 und sicherte sich seinen Startplatz im absoluten Eiltempo von nur fünf Monaten.
Björn Schnake macht keine halben Sachen. Das gilt für die Zeit vor seiner zehnjährigen, berufsbedingten Tischtennispause, als er es mit dem TTS Borsum bis in die zweite Bundesliga schaffte. Aber auch für die Zeit danach, als er mit Para-Tischtennis einen völlig neuen Wirkungsbereich für sich entdeckte. Obwohl der 49-jährige Hildesheimer seit seiner Geburt mit einer seltenen Stoffwechselerkrankung lebt und sechs Jahre später schon mit dem Tischtennisspielen begann, brachte er diese beiden Bereiche seines Lebens nie zusammen: sein Handicap und seinen Lieblingssport. „Ich habe mich in meiner aktiven Laufbahn nie als behindert angesehen und tatsächlich nicht gewusst, dass ich mit meiner Krankheit in den Para-Sport falle“, erklärt Schnake. „Und das obwohl ich nur 1,65 Meter groß bin und O-Beine habe, durch die man einen Handball schießen könnte.“
Vom gemütlichen Kaffeekränzchen zu den Paralympics
Konkret hat der Bezirksoberligaspieler eine Hypophosphatämie und eine Vitamin-D-resistente Rachitis. Das bedeutet, dass sein Knochenstoffwechsel nicht so funktioniert, wie er sollte, und seine Gelenke zuwachsen. Aus diesem Grund ist Schnake in seiner Beweglichkeit eingeschränkt und konnte zeitweise nicht mehr selbstständig vom Boden aufstehen. Nach fünf Operationen an den Unterschenkeln und Hüften geht das nun wieder besser. Die Schuhe zuzubinden, fällt ihm aber auch heute noch schwer. Als potenzieller Para-Sportler hat er sich dennoch nicht gesehen - bis er vom niedersächsischen Landesfachwart im Bereich Para-Tischtennis, Johannes Urban, darauf angesprochen wurde. „Ich habe mir das also einmal angeschaut und 2019 an den Landesmeisterschaften teilgenommen, die ich grausam fand“, gibt Schnake zu. „Das war ein gemütliches Kaffeekränzchen. Aber die Deutschen Mannschaftsmeisterschaften kurz darauf haben mir richtig Spaß gemacht.“
Hier war es auch, wo der dreifache Familienvater auf den Radar der Bundestrainer geriet. Nachdem sein Team den dritten Platz ergattert hatte, wurde er von Volker Ziegler und Hannes Doesseler gefragt, ob er nicht auch Interesse an internationalen Wettkämpfen hätte. „Björn hatte schon ein Jahr vorher an den Handicap Open teilnehmen wollen, konnte dann aber nicht. Deshalb war mir der Name aber schon ein Begriff“, erinnert sich Doesseler. Zudem hatte ihn der mehrfache Paralympicssieger Jochen Wollmert vor der DM schon darauf hingewiesen, auf Schnake ein Auge zu werfen. „Und wenn Jochen, der so viel Erfahrung hat, so etwas sagt, dann heißt das schon was“, erklärt der Düsseldorfer Stützpunkttrainer. „Björn sieht man die zweite Liga einfach an. Das ist wie Fahrradfahren - das verlernt man nicht. Er ist ein Cleverchen. Da er nicht der Größte ist, musste er sich im Regelsport schon was überlegen, wie er das durch gute Platzierung kompensieren kann. Und das kommt ihm nun im Para-Sport zugute.“ Schnakes Feuertaufe in der Nationalmannschaft folgte wenig später bei einem Turnier in den Niederlanden, wo der Debütant sogleich den Weltranglistenvierten seiner Wettkampfklasse sieben besiegte und mit dem Team Gold holte. Als Sahnehäubchen wurde er danach als Nummer elf ins internationale Ranking aufgenommen. „Ich kann nicht halb Tischtennis spielen - ganz oder gar nicht“, erzählt Schnake. Und so wurde schnell ein großes Ziel ins Auge gefasst: die Paralympics in Tokio im Sommer 2020!
Qualifikation in fünf Monaten
Hierfür musste der Niedersachse noch drei weitere internationale Turniere bestreiten. In Ägypten, Spanien und Polen schnitt er jeweils als Erster oder Zweiter ab. Kurz bevor er nach China fliegen wollte, um auch noch an einem Kontinentalcup teilzunehmen, kam ihm der erste Corona-Lockdown dazwischen. Der neunte Platz, auf den er in der Weltrangliste durch seine Erfolge inzwischen geklettert war, reichte aber auch aus. Björn Schnake, der im November 2019 mit dem Para-Sport begonnen hatte, erreichte im April 2020, wovon alle Sportler mit Handicap träumen: Er bekam sein Ticket für die Paralympics. „Ich konnte es kaum glauben. Das ist das Höchste im Sport“, beschreibt der Group Solution Manager, der von seinem Arbeitgeber eine Freistellung bei vollem Lohnausgleich für die Vorbereitung und die Paralympics erhielt, was ihm die Qualifikation bedeutet. „Über meinen Studienabschluss habe ich mich nicht annähernd so gefreut.“
Die Freude wurde auch durch die coronabedingte Verschiebung der Spiele nicht getrübt. „Die Nachricht hat mich schon getroffen, aber mental nicht beeinflusst“, verrät Schnake. „Dann habe ich halt ein Jahr länger Zeit. Ich bin ja ganz frisch da reingerutscht und kann mich so noch intensiver vorbereiten.“ Das macht der Hildesheimer zum Beispiel im Olympia-Stützpunkt Hannover, wo er mit dem Jugendbundeskader trainiert, oder bei Lehrgängen der Nationalmannschaft, zum Beispiel in Düsseldorf. In seinem Keller hat er inzwischen allerdings auch schon den Olympiaboden liegen, um in Coronazeiten trotz Lockdowns täglich trainieren zu können. Außerdem schaut er sich Videos von potenziellen Gegnern in Tokio an, um ihre Schwachstellen zu erkennen. „Am Anfang hatte ich ein Handicap, gegen Gehandicapte zu spielen“, lacht Schnake. „Ich habe es als unfair empfunden, die Einschränkung auszunutzen. Seit mich Valentin Baus einmal aus der Halle geprügelt hat, spiele ich jedoch auch gegen Rollifahrer auf die Schwachstellen.“
Gold im Visier
Wer Schnake selbst ärgern will, spielt konstant über die Flügel. Sidesteps kann er wegen seines Handicaps nicht machen, also agiert er sehr nah am Tisch und versucht, zu verhindern, weite Wege gehen zu müssen. Wie weit er damit in Tokio kommen könnte, fällt ihm wegen seiner wenigen Wettkämpfe schwer einzuschätzen. „Es wird derjenige gewinnen, der sich am besten auf Tokio fokussieren kann“, glaubt er. „Die Entscheidung findet im Kopf statt.“ Fehlenden Fokus kann man Schnake schon einmal nicht vorwerfen. Auch wenn noch immer die endgültige Absage der Spiele droht, trainiert der Vater, der seine Familie auch bei diesem zeitintensiven Projekt hinter sich weiß, voll durch. „Ich gehe davon aus, dass die Paralympics stattfinden, sonst könnte ich mich nicht anständig darauf vorbereiten“, ist sich Schnake sicher, dass das Mega-Event mit den nötigen Maßnahmen durchführbar wäre. Sein Ziel verschweigt er dabei nicht: „Ich würde nicht hinfahren, wenn ich nicht weit vorne landen oder sogar gewinnen wollen würde.“
Laut Hannes Doesseler ist dieses Ziel nicht vermessen: „Er hat den ‚Neuer-Spieler-Bonus‘. Alle haben den Nachteil, dass gerade kaum Turniere stattfinden, aber für Björn ist es ein Vorteil. Es hat ihn noch kaum einer spielen gesehen. Er kann sich eine Menge Videos von seinen Gegnern anschauen, aber von ihm gibt es kaum Material. Von daher denke ich, dass es sehr weit gehen könnte.“ Vom 24. August bis 5. September soll das Topevent in Tokio stattfinden. Und wer weiß? Vielleicht lautet ja die Überschrift des nächsten myTischtennis.de-Artikels über Björn Schnake schon: „Vom Tischtennis-Normalo zum Paralympics-Sieger“.
(JS)
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