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Jans Blog: Die Turnierflut schadet unserem Sport!

Bastian Steger lässt die EM in diesem Jahr aus (©Stosik)

17.10.2016 - Welt- und Europameisterschaften, World Cup und World Tour - und dann auch noch die Olympischen Spiele. Der Turnierkalender der Topsportler hat es in diesem Jahr allein schon auf internationaler Ebene so in sich, dass auch Bundestrainer Jörg Roßkopf seinen besten Schützlingen zu einer Pause während der EM geraten hat. Jan Lüke schaut kurz vor dem Start der kontinentalen Meisterschaften mit besorgter Miene auf diese Entwicklung und sieht vor allem viele Verlierer.

Nicht erschrecken: Morgen beginnen in Budapest die Europameisterschaften. Genau, im Tischtennis. Richtig, schon wieder. Die EM in der ungarischen Hauptstadt ist gewissermaßen ein Jubiläum: Sie ist die zehnte – in den letzten zehn Jahren. Seit 2007 gibt es jährlich frische Europameister. Manchmal nur in den Mannschaftswettbewerben. Manchmal nur in den Individualwettbewerben. Manchmal sowohl in Mannschafts- als auch in Individualwettbewerben. Meistens nicht im Mixed-Doppel, das erst gestrichen und schließlich ausgegliedert wurde (zum Artikel). Manchmal aber doch im Mixed-Doppel, wie diesmal in Ungarn, wo das Mixed wieder eingeführt wurde. Man ist geneigt anzunehmen, es gäbe in dieser Flut an Europameisterinnen und Europameistern ziemlich viele Gewinner. Eigentlich und vor allem perspektivisch gesehen aber gibt es vielmehr viele, viele Verlierer. Die Zuschauer, die Medien, die Spieler – eigentlich die gesamte Sportart. Warum das?

Ein Blick zurück: Ich kann mich noch bildlich an vergangene Europameisterschaften erinnern. In ferner, aber auch noch nicht allzu ferner Vergangenheit. An Jörg Roßkopf beim Heimspiel 1992 in Stuttgart natürlich, an Jean-Michel Saive 1994, an den lange bei Europameisterschaften so erfolglosen Jan-Ove Waldner 1996, an das legendäre Turnier von Peter Karlsson 2000 in Bremen. Ich erinnere mich an die Sieger, ihre Spiele und die Wettbewerbe, weil die im besten Sinne erinnerungswürdig waren. Seitdem ist viel passiert. Und – da spricht keineswegs der Nostalgiker in mir: nicht viel Gutes. Die Europameisterschaften sind von Verbandsseite als Wettbewerb stetig entwertet und verwässert worden. Der Bogen ist überspannt worden, das Rad überdreht. Man kann es nennen und blumig formulieren, wie man möchte. Fest steht: Die EM läuft an Zuschauern genauso wie an Medien, vor allem den Nicht-Fachmedien, in jedem Jahr weiter und schneller vorbei. Zudem, so scheint es, auch mehr und mehr an den eigentlichen Protagonisten, den Trainern und Spielern.

Auch Roßkopf empfiehlt Pause

Dass Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf seine Olympia-Starter öffentlich dazu anhielt, sich Gedanken darüber zu machen, ob der Wettkampf ihnen in einem proppevollen Spieljahr gelegen käme (zum Artikel), ist eine Ansage. Wichtiger Einschub an dieser Stelle: Für mich liegt Roßkopf mitnichten falsch. Natürlich finden sich für eine EM wie bei jedem anderen der vermeintlich bedeutenden Wettkämpfe gute Gründe, diese nicht aus der Jahresplanung zu streichen. Große Spieler haben zumeist großen Ehrgeiz, außerdem auch große Sponsoren und Hersteller im Hintergrund. Die Perspektive eines Trainers, der mit mehr zu planen hat als dem Augenblick und dem Affekt eines einzelnen Wettkampfs, darf und muss auch eine andere sein. Roßkopf schaut mit Abstand genauso auf den Schutz wie auf die Entwicklung seiner Athleten.

An denen wird mittlerweile aus vielen Richtungen gezerrt. Sie haben etliche Verpflichtungen. Der Turnierkalender wächst von Jahr zu Jahr an – und jedes Turnier suggeriert ihnen Bedeutung. Mal sind es Weltranglistenpunkte und die damit verbundene Setzung bei Großevents. Mal ist es Prestige wie etwa für Dimitrij Ovtcharov bei den Europaspielen oder der EM, wo sich Europas Bester beweisen möchte. Mal ist es bei Berufssportlern schlichtweg wohl auch das liebe Geld. Weitere Anspruchsgruppen sind die Verbände, die ihre Spieler bei nationalen Wettbewerben wie den deutschen Meisterschaften genauso wie bei internationalen Wettbewerben wie den German Open oder jüngst dem World Cup sehen möchten. Auch wären da noch die Arbeitgeber der Spieler: die Vereine, die in der Liga oder im Europapokal deren Leistung und Arbeitskraft einfordern. Der Spielraum für Training, für gezielte Trainingssteuerung oder lang angelegte Trainingszyklen schrumpft demgegenüber naturgemäß zusammen. Erst jüngst sprach der Bundestrainer davon, dass dies nicht die Voraussetzungen seien, um den Abstand seiner Spieler zu den besten Asiaten zu verkürzen. Gerade die Chinesen mit ihrer Vielzahl an Topspielern haben die Möglichkeit, ihre Wettkampfbelastung zu verteilen – und dadurch Raum für Training zu schaffen. Roßkopf hat auf diese Entwicklung aufmerksam gemacht. Nicht mehr, nicht weniger. 

ITTF und ETTU fügen der Sportart so Schaden zu

Grundsätzlich mögen Europameisterschaften für einen Sportler in der Tat das falsche Turnier sein, um seine Wettkampfliste zu kürzen. Am Beispiel dieser EM aber wird deutlich wie selten zuvor, wie ITTF und ETTU ihrer eigenen Sportart Schaden zufügen. Wenn ein Athlet im August bei den Olympischen Spielen auf Topniveau spielt, wird er das nicht im Oktober beim World Cup und direkt danach bei der EM schon wieder können. Zumal er in der Zwischenzeit auch mit seinem Verein, der ihn als Arbeitgeber bezahlt, in die Saison gestartet ist. Das hat eine psychologische Komponente, aber selbst bei einer Spielsportart wie Tischtennis, die sicherlich nicht mit dem 800-Meter-Lauf zu vergleichen ist, dennoch auch eine physiologische.

Das sportliche Niveau in Saarbrücken und auch in Budapest, das lässt sich vor dem ersten Ballwechsel sagen, wird nicht so hoch sein, wie es sein könnte, wenn man den Turnierkalender ausdünnt und weitsichtiger aufeinander abgestimmt hätte. Damit ist niemandem geholfen. Es hat nichts mit künstlicher Verknappung zu tun, wenn nur alle zwei Jahre EM-Titel vergeben würden. Viel hilft nicht immer viel. Manchmal hilft viel eben auch deutlich weniger.

(Jan Lüke)

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