Volle Konzentration auf Einzel Nummer zwei - oder doch mal rüberschauen? (©Koch/Laven)
02.10.2017 - Die erste Runde der Etappen eines typischen Amateurspiels hat unser Phasendrescher Philipp Hell nun erfolgreich absolviert - es wird Zeit, in die zweite Runde einzusteigen! Und die beginnt naturgemäß mit dem zweiten Einzel. Je nach dem, wie der bisherige Mannschaftskampf verlaufen ist, könnte das Spiel nebenan allerdings viel interessanter sein als das eigene. In welche verheerenden Situationen man sich hier bringen kann, beschreibt Hell in seinem Blog.
Es trifft die meisten Kreisligaspieler oftmals ebenso hart wie überraschend: Das zweite Einzel steht an! Wenn sich die andere oder die eigene Mannschaft also nicht kampflos ergeben hat („Wir wollen Gegner, keine Opfer!“) und die ganze Partie nicht in handgestoppten 1:15 Stunden über die Bühne gegangen ist, so bedarf es folglich noch weiterer hitziger Duelle an Platte oder Tisch, um das Endergebnis zu bestimmen. Alternativ wurde eine ebenso aussichtslose wie unnötige Aufholjagd eingeläutet, die eigentlich nur den anschließenden Kneipenbesuch nach hinten verschiebt, nun aber trotzdem noch zu etwas Zählbarem führen soll – zu einer knappen Niederlage im Schlussdoppel beispielsweise.
Was macht Lothar nebenan?
In beiden Fällen steht man von einer Sekunde auf die andere wieder am Tisch, die Glieder schon etwas schwerer, der Kopf etwas müder, der Blick etwas trüber und die Aussichten eher wolkiger als zu Beginn des ersten Einzels, denn dieser Gegner liegt einem nun wirklich gar nicht. Doch egal, jetzt heißt es liefern! Denn entweder hat man sein erstes Einzel bereits gewonnen, dann könnte man nun den Abend veredeln und endlich über die seit Monaten – ach was, seit Jahren! – gejagte magische Grenze an TTR-Punkten klettern. Oder aber es gilt nach der Pleite im ersten Spiel nun dringend Wiedergutmachung zu betreiben – schließlich konnte auch im Doppel nicht gepunktet werden, die Mitspieler maulen schon (sie haben wohl die fünf Extrakilo vom kürzlichen Kanaren-Kurztrip unter dem nun etwas am Bauch spannenden Trikot erspäht, die Ausrede „im Trockner irgendwie bisschen eingegangen“ war wirklich etwas dürftig) und zur Rückrunde will man auf gar keinen Fall in der Rangliste hinter den Hansi abrutschen.
Also volle Konzentration auf das zweite Einzel. Doch da gibt es ein Problem. Und dieses Problem steht gar nicht auf der anderen Seite der Platte und auch nicht auf der eigenen Seite, nein, nein, das Problem spielt am Nachbartisch. Denn das Ergebnis des dort stattfindenden Matches, welches langsam in die entscheidende Phase einbiegt, entscheidet, ob das eigene Spiel überhaupt noch zählt. Also wird stets mit einem Auge – oder auch mit anderthalb Augen – hinübergeschielt, um zu beobachten, was Lothar, der sehr routinierte Abwehrspezialist im eigenen Team, da so treibt.
Chance für Experimente
Solange man sich locker mit seinem Gegner einspielt, ist das natürlich alles kein Problem: Oh, du hast den Ball schon gespielt, tschuldigung, hab gerade rübergesehen. Du, die haben Satzball, lass mal kurz warten, wie sich das entwickelt. Hey, nicht so schnell, war gerade noch beim anderen Match! Lothar scheint drüben auf ziemlich verlorenem Posten zu stehen: Er ist eben auch nicht mehr der Jüngste, das Wasser in seinen Beinen setzt ihm diese Saison ganz schön zu und so langsam haben auch die letzten geistigen Kleingärtner im Tischtennis-Kreis verstanden, wie man dieser Mischung aus langen Anti-Noppen und kurzem Topspin-Slice beikommen kann.
Irgendwann geht dann das eigene Match los, also aufgemerkt! Da man es nur bei einem nicht zu erwartenden Sieg Lothars noch auf den Spielberichtsbogen schaffen wird, kann man hier natürlich völlig locker und von jeglichem Druck befreit aufspielen: Vielleicht mal den neuen Longline-Topspin oder diesen raffinierten Aufschlag ausprobieren, die am Montag im Training beide nicht so recht geklappt haben? Mal sehen.
Zwei mögliche Szenarien
Unter diesen Voraussetzungen gibt es nun zwei mögliche Spielverläufe: Entweder läuft es wie geschmiert, weil man gegen den Angstgegner endlich einmal frei aufspielen kann. Die Angriffe kommen plötzlich alle, man hat die Sicherheit, die sonst immer fehlt, des Gegners Unterschnitt ist plötzlich gar nicht mehr so gefährlich, kurzum: Man blickt einem ebenso ungefährdeten wie unnützen Sieg entgegen, denn zählen wird das Match ja ohnehin nicht mehr.
Szenario zwei: Wenn die Spannung fehlt, dann fehlt etwas Wichtiges, und so läuft hier aber auch gar nichts zusammen. Als Wettkampfschwein braucht man eben immer diese am Horizont drohende Niederlage, damit man mit leicht schwitzigen Händen sein bestes Tischtennis auspacken kann. Doch das hier ist nur eine belanglose Trainingseinheit, denn zählen wird das Match ja ohnehin nicht mehr.
Lothar packt den Kämpfer aus!
Ein rein zufälliger Blick zur Nachbarplatte zeigt dann jedoch: Lothar hat sich reingefuchst. Plötzlich ist der 76 Jahre alte Kämpfer in ihm erwacht, Lothar will sich sein Feierabendbier auch wirklich verdienen. Irgendwie kann er bald sogar zum 2:2 ausgleichen und sein jugendlicher Gegenspieler wirkt zunehmend verzweifelt, während er in der Satzpause von allen seinen anwesenden Mitspielern gecoacht wird. Nun heißt es natürlich für einen selber, den Schalter umzulegen, und zwar sofort! Nun gilt es, dringend in den Wettkampfmodus zu schalten. Doch ach! Die Bälle, die in Szenario eins gerade noch alle kamen, bleiben nun wieder an der Netzkante hängen. Der Gegner wittert Morgenluft, Schweiß perlt auf unserer hohen Stirn, die Brille sitzt schief, geben wir den sicher geglaubten Sieg jetzt wirklich noch aus der Hand? Schnell wieder ein banger Blick zu Lothars Spiel: Man wünscht einem Mitspieler ja wirklich nichts Schlechtes, aber er wird doch nicht…!?!?
In Szenario zwei fällt das Schalterumlegen noch schwieriger aus. Zwar konnten wir zurück im Wettkampfmodus sofort zwei, drei klasse Punkte machen, die sehr klar andeuteten, dass wir jederzeit in der Lage sind, diesen sinnlosen Rückstand noch aufzuholen. Doch seitdem geht es nicht so wirklich vorwärts, bereits im dritten Satz ist unser Spiel auf des Messers Schneide, der Angstgegner ist eben völlig zurecht ein Angstgegner. Der bange Blick geht nun ständig hinüber zum alten Lothar: Man wünscht einem Mitspieler ja wirklich nichts Schlechtes, aber er wird doch nicht…!?!?
„Hättest dich ruhig mehr anstrengen können!“
Immer wieder wandert er rüber, der Blick, immer wieder und immer wieder. So schwindet mehr und mehr die Konzentration aufs eigene Spiel, so schwindet der Glaube an den eigenen Sieg, so schwinden die Siegchancen und ehe wir uns versehen, haben wir unser Match verloren. Shakehands, Handtuch, Getränk. Nur Lothar kämpft immer noch, 22:22 im Entscheidungssatz, neun Matchbälle hat er bereits abgewehrt.
Während wir uns unter dem Handtuch vergraben und eine klitzekleine Träne verdrücken, gelingt Lothar doch noch der nicht mehr für möglich gehaltene Sieg an der Nachbarplatte. Großer Applaus in der ganzen Halle begleitet das Comeback der Saison unseres Seniors, nur unser Kapitän ist angesäuert: „Hättest dich ruhig etwas mehr anstrengen können! War doch klar, dass Lothar das Ding noch dreht und im Schlussdoppel hätten wir bestimmt noch das Unentschieden geholt…“
(Philipp Hell)
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