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Leserbrief: Gibt es geborene Gewinner und Verlierer?

Ex-Zweitligaspieler Sebastian Schwarz ist auf der Suche nach dem Gewinnergen (©privat)

20.07.2020 - Sind Sie ein Siegertyp? Haben Sie Nerven aus Stahl, wenn sie unter Druck geraten, und holen sich den Sieg auch noch nach hohem Rückstand im alles entscheidenden Einzel des Spitzenspiels der Saison? Unser Leser Sebastian Schwarz, der uns in den vergangenen Monaten bereits den einen oder anderen Leserbrief hat zukommen lassen, denkt diesmal darüber nach, ob es im Tischtennis geborene Gewinner und Verlierer gibt.

Ein Leserbrief von Sebastian Schwarz aus Neuss

In meinem noch recht jungen Dasein als „TT-Rentner“ habe ich mich bereits mit einigen Facetten unseres Sports beschäftigt und gleichzeitig versucht, etwas über den Tellerrand zu schauen und mögliche Zusammenhänge bzw. Übertragbarkeiten in das Alltagsleben aufzuzeigen.  Heute möchte ich mich mit einer besonderen Thematik auseinandersetzen, die für mich schon immer extrem spannend und Anlass für unterschiedliche Überlegungen war. Ich bin sicher, dass ein großer Teil der aktiven Tischtennisspieler sich bereits einmal ähnliche Gedanken gemacht hat, so dass die folgenden Zeilen (hoffentlich) Grundlage für eine - möglicherweise kontroverse - Diskussion sein können und sollen. 

Bittere Niederlage gegen jungen Süß

Jeder Spieler kennt die Situationen in der Box, wenn der Druck besonders groß ist oder es knapp ist/wird (Spitzenspiel, Verlängerung, 9:9 im Fünften etc.). Mit diesen Situationen geht jeder Sportler anders, einige besser und einige schlechter, um. An diesem Punkt stellte sich mir schon immer die Frage, inwieweit man lernen kann, sich in solchen Situationen zu verbessern, also „abgezockter“ zu werden und die Quote der knappen/wichtigen Siege signifikant zu erhöhen. Oder gibt es vielleicht doch eine Art angeborenes Sieger- oder Verlierergen, das ich - egal welche Anstrengungen ich unternehme - nicht ausschalten oder überlisten kann? Insoweit kann ich mich der Antwort auf diese Frage wieder nur allein auf Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen nähern. 

Während meiner aktiven Zeit habe ich insgesamt wohl deutlich mehr Spiele gewonnen als verloren. Wenn ich aber auf die wirklich „wichtigen“ Spiele ehrlich zurückblicke, dürfte sich die Zahl der gewonnenen und verlorenen Spiele in etwa die Waage halten. Jedenfalls kann ich mich neben tollen Siegen auch an einige bittere Niederlagen erinnern. Knappe bzw. wichtige Siege einfahren können/konnten also wohl zumindest einige Spieler besser als ich. In diesem Zusammenhang ist mir ein Spiel besonders in Erinnerung geblieben, das zu Beginn des neuen Jahrtausends stattfand. Gegner war ein gewisser Christian Süß, damals um die 15 Jahre alt und ganz am Anfang seines Aufstiegs. Ich war Anfang 20 und eher schon in den letzteren Phasen meiner spielerischen Entwicklung. Jedenfalls war ich gut in die Saison gestartet, hatte an diesem Tag auch schon die gegnerische Nr. 1 geschlagen und führte dann im Spiel der „Zweier“ mit 1:0 in Sätzen und 20:16 nach Punkten (ja, liebe jungen Tischtennisfreunde, es ging damals wirklich noch bis 21) bei eigenem Aufschlag. Was dann folgte war für mich persönlich sehr bitter, objektiv betrachtet aber sehr beeindruckend. Ich hatte bei den folgenden vier Aufschlägen und auch den beiden Punkten danach gefühlt keine realistische Chance auf einen Punktgewinn. Bei meinem Gegenüber gab es kein Zögern, keine Angst vor einem Fehler oder sonst ein Zeichen von Unsicherheit, obwohl die Ausgangssituation alles andere als günstig war. Und dies bereits in so jungen Jahren. Den dritten Satz verlor ich dann „im Schneider“ mit 21:10 und traf danach - nur nebenbei erwähnt - den Rest der Saison kaum einen Ball mehr. 

Erlernbar oder Geschenk Gottes?

Dieser junge Bursche hatte also schon seinerzeit einen besonderen „Kopf“, also eine besondere mentale Stärke, die im Sport allgemein so wichtig ist. Mir fallen noch andere, ähnliche Beispiele ein, die in eine ähnliche Richtung gehen und an denen man eine große mentale Stärke einiger weniger Spieler erkennen kann. Auf höchster sportlicher Ebene erinnere ich mich in jüngerer Vergangenheit an die Spiele von Timo Boll gegen Lin Gaoyuan oder auch Jun Mizutani, gegen die jeweils extrem hohe Rückstande wettgemacht wurden. Wenn man sich diese Spiele ansieht und den Tischtennissport über Jahrzehnte hinweg kennt und beobachtet hat, entwickelt man ein Gespür dafür, dass ein Spiel trotz eines vermeintlich hohen Rückstandes durch die mentale Stärke auf der einen und die entsprechende Schwäche auf der anderen Seite doch noch kippen kann. 

Wie ist es aber nun? Kann ich mir mentale Stärke aneignen oder ist dies ein „Geschenk des Schöpfers“? Ich glaube, dass es zwar grundsätzlich möglich ist, sich eine mentale Stärke anzueignen, diese Möglichkeit aber in den allermeisten Fällen nur begrenzt ist. Es gilt nach meiner Auffassung das gleiche, was auch für die spielerische Entwicklung gilt. Wenn ich nicht das nötige „Feeling“ habe, kann ich so viel trainieren, wie ich will. Weltmeister werde ich nicht. Genauso wenig werde ich Weltmeister, wenn ich zwar das spielerische Vermögen habe, mein Kopf aber in den entscheidenden Situationen nicht auf dem gleichen Niveau funktioniert. Erfahrung und Unterstützung durch „Mentalcoaches“ können sicherlich helfen, das Verhalten und die Erfolgsquote in knappen Spielsituationen zu verbessern. Einen in engen Spielsituationen eher passiven und ängstlichen Spieler zu einem echten „Siegertypen“ zu machen, dürfte jedoch nur sehr selten gelingen, da das Naturell eines Menschen nur begrenzt beeinflusst werden kann. In vielen Fällen müsste jedoch eine grundsätzliche Änderung der Persönlichkeitsstruktur herbeigeführt werden; ein extrem schwieriges Unterfangen. 

Verbesserung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten

Heißt das jetzt, dass sich kein Spieler in knappen Situationen mehr anzustrengen braucht, weil alles vorherbestimmt ist? Nein, auf keinen Fall. Jeder sollte natürlich versuchen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu verbessern, um so viele „knappe Dinger“ wie möglich „einzufahren“. Dennoch bleibe ich bei dem Ergebnis, dass sich die Rahmenbedingungen in jedem Einzelfall unterscheiden. Lange nicht jeder Spieler verfügt über eine bereits angelegte, besondere psychische Stärke, um in knappen Spielsituationen diese Stärke ausspielen zu können. Die tischtennisspezifische psychische Stärke ist in jedem Einzelfall unterschiedlich ausgeprägt, und zwar auf allen sportlichen Ebenen, mithin also in jeder spielerischen Klasse. Ich kenne Spieler, die sich spielerisch auf gutem Kreisliganiveau befinden, von deren mentaler Stärke sich jedoch der eine oder andere Regionalligaspieler gerne „eine Scheibe abschneiden“ würde. 

Wie seht ihr das? Stimmt ihr mit mir überein oder ist der Ansatz vielleicht sogar grundsätzlich falsch und jeder kann - wenn er es nur genug will - zum Gewinner werden? Während der letzten Jahre meiner aktiven Zeit wurde ich regelmäßig zu Rate gezogen, wenn es darum ging, die Mannschaft für die Folgesaison zu formieren und neue Spieler zu verpflichten. Ich habe dann bei der Auswahl (neben den menschlichen Qualitäten, die auf jeder Ebene das Hauptkriterium für die Auswahl sein sollten) nicht zuletzt auch darauf geachtet, ob diese potentiellen neuen Spieler auch in Spitzenspielen oder Spielen gegen den Abstieg, also in Spielen mit besonderen Drucksituationen, voraussichtlich „funktionieren“ und in der Lage sein werden, den Druck zu verarbeiten. Dabei lag ich oft richtig und es zeigte sich, dass es durchaus Siegertypen gibt und auf der anderen Seite solche, die in Drucksituationen häufiger nicht ihr volles Potential abrufen können. Ob ich mich bei dieser Auslese selbst ausgewählt hätte? Vielleicht, aber sicher bin ich nicht. 

Eins jedoch noch zum Schluss. Was den Mannschaftssport betrifft, bin ich sicher, dass eine vielleicht vorliegende individuelle mentale Schwäche durch ein funktionierendes Team kompensiert werden kann. Ein perfekt zusammenhaltendes Team ist also mit Sicherheit ein probates Mittel, die Psyche des Einzelnen - immer im Rahmen des Möglichen - zu stärken und zu verbessern. In diesem Sinne: Gut Schlag und gute Nerven! 
 

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