Timo Boll ist zum siebten Mal Europameister im Herren-Einzel (©Gohlke)
23.09.2018 - Nicht viele hatten damit gerechnet, er selbst am wenigsten: Timo Boll hat sich am Sonntag durch einen 4:1-Finalerfolg über den Rumänen Ovidiu Ionescu zum siebten Mal in seiner Karriere zum Europameister im Herren-Einzel gekrönt. Zuletzt hatte der 37-Jährige diesen Titel 2012 in Herning (Dänemark) gewonnen. Europameisterin im Damen-Einzel wurde die Polin Li Qian.
"Hätte ich jetzt die Form von vor ein paar Monaten, dann gäbe es eine realistische Chance, aber aktuell sehe ich mich nicht im Favoritenkreis. Ich sehe das Turnier mehr als Wettkampfpraxis, Einstieg in die Saison und hoffe, dass ich mich während des Wettkampfes steigere", hatte Boll noch kurz vor der EM im myTischtennis-Interview geäußert mit Blick auf seinen Trainingsrückstand nach langer Verletzungspause im Sommer (Bandscheibenvorfall im Nackenbereich).
Steigern, das sollte sich der 37-Jährige während des Turniers gewiss. Nach Zittersieg in Runde zwei gegen den Franzosen Can Akkuzu in der Verlängerung des Entscheidungssatzes zeigte sich der Düsseldorfer am Samstag im Achtelfinale gegen den Engländer Liam Pitchford (4:2) und im Viertelfinale gegen den Österreicher Daniel Habesohn (4:0) schon sicherer. "Ich bin deshalb eigentlich guter Dinge ins Finale gegangen, dort dann aber im ersten Durchgang überrolt wurden", spielte Boll auf den schnellen 0:1-Rückstand gegen den Mühlhäuser Bundesligaprofi Ionescu an, der hier in Alicante u. a. den Titelverteidiger Emmanuel Lebesson, Vladimir Samsonov und Kristian Karlsson aus dem Turnier geworfen hatte. "Da war die Sicherheit dann wieder etwas weg. Wichtig war dann, ihm den zweiten Satz zu stehlen. Er ist ein Hop- oder Top-Spieler, da muss man einfach die Ruhe bewahren."
"Nicht mehr damit gerechnet, noch mal Europameister zu werden"
Mit Blick auf das gesamte Turnier habe er "manches Spiel gedreht" (siehe Absatz zum Halbfinale gegen Patrick Franziska), "die Vorzeichen standen eher auf Erstrunden-Aus, aber ich habe mich reingewurschtelt." Seine Skepsis vor der EM sei keine Tiefstapelei gewesen, sondern seine ehrliche Meinung, wenn er sich an Comebacks nach Knieverletzungen in der Vergangenheit erinnere. Zudem habe der Hesse in der Trainingswoche vor dem Turnier noch fast jedes Spiel im Training verloren, sei von den Kollegen schon ausgelacht worden. "Die Automatismen waren weg. Ich bin jemand, der nicht so schnell braucht, um wieder reinzukommen. Dass es so schnell geht, hätte ich nicht gedacht."
Zuletzt hatte Boll 2012 im dänischen Herning ganz oben auf dem Treppchen gestanden, damals den Kroaten Tan Riuwu im Endspiel geschlagen, den ersten EM-Titel im Einzel 2002 nach Finalsieg über Kalinikos Kreanga geholt. "Ich habe nicht mehr damit gerechnet, noch mal Europameister zu werden. Ich bin froh und dankbar, dass das geklappt hat. Ich weiß, wie schnell es vorbei sein kann. Es macht mir immer noch Spaß. Ich hoffe, dass ich noch eine Weile weiterspielen kann."
Franziska verspielt 3:1-Führung gegen Boll
"Timo ist eben Timo. Wenn es darauf ankommt, ist er da." Das hatte Patrick Franziska am Samstagabend geäußert im Bezug darauf, wie schwer die Partie gegen den Rekordeuropameister im Halbfinale am Sonntagmittag werden würde. Nur einmal bei einem Pflichtspiel (in der TTBL) hatte Franziska laut eigener Aussage in all den Jahren gegen Boll gewinnen können. Ein weiterer Erfolg sollte am Sonntag nicht dazu kommen. In einem Sieben-Satz-Krimi musste sich der 26-Jährige seinem Odenwälder Kumpel geschlagen geben – und das nach 3:1-Führung nach Sätzen und 3:0 im fünften Durchgang sowie 7:3 im Entscheidungssatz. Acht Punkte in Folge sollten Boll dort dann gelingen.
Entsprechend enttäuscht und sichtlich geknickt schleppte sich Patrick Franziska nach der Niederlage in die Mixed-Zone. "Kurz nach dem Spiel eine Erklärung zu finden, ist natürlich immer schwierig. Ich bin immer positiv geblieben, war das ganze Spiel über im besagten Tunnel. Nachher habe ich die Bälle nicht mehr so getroffen, muss gegen Timo aber natürlich viel riskieren, um zu gewinnen", so der Spieler des 1. FC Saarbrücken. "Natürlich ist die Niederlage ärgerlich, aber ich kann mir nichts vorwerfen, habe ein super Turnier gespielt."
"Tut mir leid für ihn, dass er heute so verloren hat"
Timo Boll geizte nach dem Halbfinale nicht mit Lob für seinen unterlegenen Kontrahenten, der genau wie er dem TSV 1875 Höchst entstammt: "Selbst in Bestform ist es gegen Patrick schwierig, da muss ich schon am Limit spielen. Es freut mich für ihn, dass er so eine Entwicklung genommen hat. Leid tut es mir für ihn, dass er heute so verloren hat. Er ist ein feiner Kerl, wir sind gut befreundet, auch unsere Familien. Meine kleine Tochter hatte sich in einem Telefonat vor dem Spiel ein Unentschieden gegen Patrick gewünscht", so Boll schmunzelnd. Zum Spielverlauf sagte der 37-Jährige: "Die Partie war nicht einfach für den Kopf, aber ich habe mich nicht verrückt gemacht. Es hat mir Spaß gebracht. Ich bin ein Kämpfer, habe nicht aufgegeben."
Li Qian dreht Spiel gegen Pesotska
Den Titel im Damen-Einzel sicherte sich am Nachmittag die Polin Li Qian. Die Bronzemedaillengewinnerin von 2011 drehte einen 0:2-Rückstand im Finale gegen die Ukrainerin Margaryta Pesotska. Die hatte schon 2009 in Stuttgart in einem EM-Finale das Nachsehen gehabt, damals gegen die Deutsche Wu Jiaduo.
Li nach ihrem ersten großen Erfolg auf europäischer Bühne: "Es war schwer, weil niemand wie Pesotska spielt. Wir haben schon mal bei einem Olympia-Qualifikationsturnier gegeneinander gespielt und damals war es ein knappes Spiel. Ich war unter Druck, bin aber einfach nur überglücklich jetzt."
Sieben EM-Medaillen für Deutschland
Drei Mal Gold (Herren-Einzel, Mixed, Damen-Doppel) und vier Mal Bronze (Herren-Einzel, Mixed, zweimal Herren-Doppel) – das ist die stolze Bilanz der deutschen Starter in Spanien. DTTB-Präsident Michael Geiger: "Was für eine tolle EM. Mehr als die Hälfte aller fünf Finals gewonnen. Mehr als ein Drittel aller 20 zu vergebenden Medaillen gewonnen. Glückwunsch und Danke an unser tolles DTTB-Team."
Zum Bericht über die Doppel-Finals
Die Spiele im Einzel am Sonntag in der Übersicht:
Damen-Einzel
Halbfinale
Sofia Polcanova AUT - Margaryta Pesotska UKR 2:4 (7,-14,-10,11,-4,-5)
Li Qian POL - Katarzyna Grzybowska-Franc POL 4:1 (11,6,6,-10,10)
Finale
Margaryta Pesotska UKR - Li Qian POL 2:4 (8,10,-6,-6,-2,-2)
Herren-Einzel
Halbfinale
Timo Boll - Patrick Franziska 4:3 (-8,12,-9,-8,9,5,7)
Kristian Karlsson SWE - Ovidiu Ionescu ROU 1:4 (-10,-6,3,-9,-9)
Finale
Timo Boll - Ovidiu Ionescu ROU 4:1 (-6,7,9,6,5)
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(DK)
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